EDDA JACHENS


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DIE KONKRETION DES ABSTRAKTEN ODER DIE ABSTRAKTION DES KONKRETEN

ZUR KUNST VON EDDA JACHENS

 

videmus nunc per speculum in enigmate

tunc autem facie ad faciem

nunc cognosco ex parte

tunc autem cognoscam sicut et cognitus sum

I Cor 13,12

 

Manche Sätze besitzen eine besondere Gabe. Sie lösen sich mühelos aus dem Zusammenhang ihrer Äußerung und werden zu Repräsentanten des sie umhüllenden Textes. Bisweilen reicht ihre Kraft aber noch weiter, und sie schließen eine Bedeutung in sich ein, die sich über die Grenzen des tatsächlich geschriebenen oder gesprochenen Wortes hinaus erstreckt. Während ihrer Passage durch das Dickicht der Texte ziehen sie einen immer größer werdenden Inhalt an sich und gerinnen zum Substrat, an das sich Kulturkreise, Epochen und Völker binden, um sich in ihnen zu spiegeln, wiederzufinden oder auch zu verlieren.

Bezeichnend ist an diesen Sätzen, daß sie im Moment der Begegnung zwar von vielen gekannt und erkannt werden, aber kaum jemand in der Lage ist, ihre genaue Herkunft zu benennen. Die Spuren zu ihrem ursprünglichen Ort sind verschüttet und nur noch schwer lesbar. Ebenso wenig einsehbar sind auch die Gründe, weshalb gerade diese Sätze und nicht andere, benachbarte, ja vielleicht auch klügere Sätze diese Kraft und Gabe entwickeln. Wer hat sie ausgesucht und wer hat ihnen ihre Stellung verschafft?

Unverrückbar und einsam stehen diese Satzmonumente auf den Bergkuppen der Geschichte und verbreiten ihre Macht über das sie umgebende Land. Dabei erfüllen sie eine zwiespältige Funktion: Als weithin sichtbare Wegmarken erschließen sie das Verständnis zu den Welten der Geistesgeschichte; im Gegenzug verlangen sie jedoch uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Gehorsam gegenüber ihrem Gehalt. Haben sie anfänglich die Grenzen des Verstehens gesprengt und sich frei über die Landschaft des Wissens ausgebreitet, folgt dieser Bewegung eine Umkehrung, und die Aufklärer verwandeln sich in Verdunkler. Kaum werden sie zum Idiom einer Epoche, ziehen diese Sätze neue Grenzen und zwingen die Geschichte in deren Verlauf. Was anfangs ein erhellender Aphorismus ist, wird zum Kanon und schließlich zur Doktrin.

Auch die Geschichte der Kunst kennt solche Sätze. Einer von ihnen fiel 1964 während eines Interviews mit den Künstlern Frank Stella und Donald Judd. Auf den Inhalt seiner Gemälde hin befragt, schloß Stella seine Ausführungen mit der kurzen und lapidaren Aussage: „What you see is what you see.“ Seitdem geistert dieser Satz durch die Kunstwissenschaft als ein Credo nicht nur der Minimal Art, sondern überhaupt als Substrat der Tendenzen nichtgegenständlicher Kunst. Und das, obwohl er auf den ersten Blick nicht sehr viel mehr sagt als, daß das, was man sieht, das ist, was man sieht.

Dennoch enthält dieser Satz eine vielschichtige Argumentation. Vier Gedanken sind es, die besonders hervortreten, sich gegenseitig bedingen und fest miteinander verwoben sind. Sie bilden die Prämissen für das moderne Kunstwerk. Der erste bezieht sich auf die sinnlich-phänomenale Ebene und stellt die reine Sichtbarkeit als Grundkonstante abstrakter Malerei fest: Vor der Interpretation stehen die Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit einer materiell gegebenen Form, und diese ist primärer Gegenstand der Kunst. Der zweite Gedanke ist rhetorisch zu verstehen, da er für das Kunstwerk die Offensichtlichkeit fordert: Nur das, was unmittelbar sichtbar ist, macht die Bedeutung eines Kunstwerkes aus, während im Gegenzug alles Verborgene aus der Kunst ausgeschlossen ist. Das Kunstwerk hat evident zu sein. Daraus folgt ein dritter Gedanke, der auf die semiotische Ebene führt: Da das unmittelbar Sichtbare auch die Bedeutung und den Sinn des Kunstwerks formt, kommt dies einer Absage gegenüber jeglicher Darstellung in der Kunst gleich. Es gibt keinen Verweis auf etwas außerhalb des Kunstwerks, das dessen Bedeutung wäre, sondern die Evidenz des Sichtbaren ist auch die Bedeutung. Das Kunstwerk beziehungsweise das in ihm zu Sehende repräsentiert sich damit selbst. Aus dieser Argumentation erschließt sich dann der vierte, ontologische Gedanke: Der Satz „What you see is what you see“ hat die logische Form einer Identitätsaussage, das Subjekt und das von ihm Ausgesagte sind identisch. Damit wird behauptet, daß das Kunstwerk sein Sein aus sich selber hat, daß es das ist, was es ist. Nichts kommt von außen zu seinem Sein hinzu. So wie eine Rose eben eine Rose ist, ist das, was man sieht, auch das, was man sieht.

Fast genau fünfzig Jahre nach dem Erscheinen der ersten nichtgegenständlichen Kunstwerke war es also Frank Stella beschieden, in einen einzigen Satz die Leitmotive dessen einzuschließen, was wir allgemein mit der Vorstellung von moderner Kunst verbinden: Sichtbarkeit, Evidenz, Verzicht auf Repräsentation und die Selbstidentität des Kunstwerks. Vom Gipfel seiner Klarheit leuchtet dieser Satz auf eine inzwischen zum Jahrhundert angewachsene Tradition der Abstraktion herab und bildet ihr Ziel und ihre Essenz, das non plus ultra und die conditio sine qua non. Gleichgültig, welche Etiketten wir den Werken nun geben mögen – abstrakt, konkret, absolut, minimalistisch oder radikal – unsere Betrachtung wird geleitet von einer in sich selbst erschöpfenden Analyse der Form und deren Verhältnis zu unserer Erkenntnis. Der Inhalt ist nicht mehr in der Form, sondern der Inhalt ist die Form. Alles andere steht außerhalb und gehört nicht mehr dazu.

Die Kunst von Edda Jachens scheint ganz dieser Moderne zu gehören. Seit ihrem Bruch mit einem extremen Realismus Ende der 1980er Jahre bewegt sie sich in der Welt der geometrischen Abstraktion. In ihren Werken herrscht der Eindruck von Strenge, Ordnung und Ruhe, denn sie sind bestimmt vom rechten Winkel, von Quadrat, Würfel, Rechteck und Quader, von der klaren Abgrenzung der Formen sowie deren rigider Ausrichtung an Horizontale und Vertikale. Selten nur finden sich Verschiebungen, die aus dem Lot führen, oder Abweichungen von dem zugrundeliegenden Raster. Die meisten Arbeiten tendieren sogar eher dahin, sich in einer zentrierten Stasis zu verabsolutieren. Folgerichtig schließt daher Jachens alles aus, was einer solchen Konzentration entgegensteht – die Diagonale, das Dreieck, überhaupt Schrägen und Kurvierungen oder das freie Spiel mit der Linie –, und erst in jüngster Zeit finden mit dem Kreis und freieren Kompositionen ganz andere, ungewohnte Momente Aufnahme in ihre Kunst. Der Strenge der Anlage entspricht auch die Diszipliniertheit in der Ausführung. Fast nichts wird dem Zufall des Materials überlassen, die Oberflächen sind plan und ebenmäßig und der Farbauftrag erfolgt innerhalb der vorgegebenen Form in einem flächigen und gleichmäßigen Duktus, der auf alle Spuren des Werkzeugs und der Hand verzichtet.

Diese Hinwendung zur geometrischen Abstraktion findet bei Edda Jachens zunächst im dreidimensional Plastischen ihren Ausdruck. Die stereometrischen Körper, Kästen und Winkelstelen erhalten ihre erste, spontane Wirkung von der auf den hölzernen Korpus aufgetragenen und anschließend geschliffenen Graphitmasse, die den Skulpturen eine materielle Präsenz und Schwere verleiht. Im Kontrast dazu stehen sparsam eingesetzte Farbflächen, die sich auf den Innenseiten, in Ausfräsungen oder Hohlräumen ausbreiten und als Monochrome in den Primärfarben Rot, Gelb oder Blau gehalten sind. Neben der plastischen Form und deren Verhältnis zum Raum und den sie umgebenden anderen Formen ist es vornehmlich diese Spannung zwischen dem Graphit und dem farbigem Pigment, die den Sinn der Skulpturen ausmacht. Jachens nutzt dabei die spezifischen Eigenschaften, welche das Material beim Zusammentreffen mit Licht entfaltet. Graphit verhält sich sehr eigenwillig und zwiespältig, wenn es mit Licht in Berührung kommt. Bei direktem Kontakt reflektiert es das Licht und erscheint gleißend hell, in der Verschattung ist es absorbierend und erscheint dunkel. In beiden Fällen nimmt Graphit also eine Extremposition ein, entweder die der völligen Zurückweisung oder die des Einverleibens. Die Farbflächen hingegen nehmen das Licht in sich auf, transformieren es und geben es als eingefärbtes Licht wieder in den Umraum ab – ein Effekt, der sich gut beobachten läßt, wenn ein Objekt seine Farbseite einer Wand zuwendet, welche dann farbig zu leuchten scheint.

Auf die Graphitarbeiten folgen die malerischen Werke mit Paraffin, die den eigentlichen Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtungen bilden. Als Träger dieser Werke dient eine dünne Holzplatte, auf welche geometrische Formen in Acrylmalerei aufgetragen werden. Das Format des Trägers ist meist quadratisch, seltener findet man extreme Querformate und bisweilen ein gemäßigtes Hochformat. Die Querformate enthalten verschieden große, aneinandergefügte Rechtecke, die beinahe die volle Höhe des Trägers einnehmen, so daß sie auch als Streifen von variierender Breite wahrgenommen werden können. Der Großteil der Bilder basiert jedoch, wie gesagt, auf dem Quadrat, dessen Zentrum ein weiteres, kleineres Quadrat einnimmt, das, obwohl es manchmal wenig Fläche im Verhältnis zur Gesamtfläche einnimmt, doch als das eigentliche Bildmotiv gelten kann, während die größere, sie umgebende Fläche lediglich als Umrandung in Erscheinung tritt. Dieses zweite Quadrat erfährt wiederum verschiedene Unterteilungen: sei es, daß ein weiteres, kleineres Quadrat oder Rechteck konzentrisch einbeschrieben wird, an den Mittelachsen Teilungen vorgenommen werden oder ein Quadratraster die Fläche in kleine Kompartimente zerlegt, welche dann durch das Ausmalen entweder ein variables Muster oder aber eine piktogrammartige Figur bilden. Erst in letzter Zeit tritt neben die rasterbasierte Komposition eine weitere Gruppe quadratischer Bilder. Über deren Oberfläche sind Kreise verteilt – monochrome Kreise, mit einer andersfarbigen, schmalen Umrandung, die in ihrer losen Anordnung kein erkennbares System zeigen. Sie bilden Ketten oder Konglomerate, überlagern sich sogar und lassen zum ersten Mal den Eindruck einer Raumschichtung oder -staffelung entstehen.

Ob als Streifenintervalle, Rasterkompositionen oder Kreiskonglomerate, das entscheidende Merkmal dieser Werke ist die dicke Schicht klaren oder eingefärbten Paraffins, die, gleichmäßig über die Malerei gegossen, den Träger und die Bildoberfläche komplett bedeckt. Das Ergebnis dieses Eingriffes ist von dreifacher Natur. Zum einen verändert sich die unter dem Paraffin liegende Malerei. Die Formen verschwimmen, die Ränder werden unscharf und eine zarte, halb transparente Schicht legt sich über die gesamte Farbigkeit. In der Tat wird hier die Technik der Lasur auf eine ungewöhnliche Art plötzlich einsehbar und konkret in ihrer Funktion verständlich gemacht. Vor allem die Farbe erfährt durch die spezifischen Eigenschaften des Paraffins eine bemerkenswerte Veränderung: Der Zusammenklang der Farben ist weich und harmonisch, und bisweilen beginnen manche Farben durch den Filter des Wachses zu leuchten und zu glühen. Als zweite Folge läßt das vergrößerte Volumen den an sich recht dünnen Bildträger wieder materiell zur Wirkung kommen und betont dessen an der Gesamtkomposition beteiligten Formcharakter. Das Bild wird bis um die Ecken des Trägers herum buchstäblich faßbar und präsent, denn es erstreckt sich nun sichtbar über die gesamte Fläche und macht den breiten „Rand“ um die Binnenform wieder zum vollwertigen Teil des Ganzen. Als letzte Konsequenz verleiht die dicke Versiegelung der bemalten Fläche den Werken einen Status, der sie als Objekt zwischen Malerei und Skulptur positioniert, ein Umstand, der verstärkt wird, wenn Edda Jachens diese Arbeiten mit einigem Abstand vor der Wand anbringt oder umgekehrt in rahmende Kästen einschließt.

Sowohl in diesen Paraffinarbeiten als auch den Graphitskulpturen gehen bei Edda Jachens Material, Form, Komposition und Ausführung Hand in Hand. Die sinnlichen Effekte, seien es die Erscheinungsweise der plastischen Körper, die zarte Wirkung der Malerei oder der Eindruck von Ruhe und Monumentalität, lassen sich in ihrer Kausalität genau begründen. Der operativ-sezierende Einsatz des Materials, der dessen spezifischen Eigenschaften Rechnung trägt, hat daran ebenso teil wie die kalkulierte Formgebung und das Gespür für die innere Organisation des Bildes oder der Plastik, ihre Gesetze von Harmonie und Spannung. Alles gehorcht den Regularien der künstlerischen Mittel, und diese bedürfen keiner Erklärung von außen. Sie sind da und vollkommen durchschaubar. Damit zeigt sich Edda Jachens als Vertreterin einer Richtung abstrakter Kunst, die wir die Konkrete nennen, und die wir als eine besonders rigoros dem Diktum verpflichtete begreifen, das Frank Stella mit seinem apodiktischen Satz für die Nachwelt auf den Punkt gebracht hatte. Alles ist sichtbar, deutlich und selbstverständlich, das Bezeichnete erschöpft sich im Bezeichnenden und das Werk ist, was es ist. Wollte jemand behaupten, daß ihm diese Kunst ein Rätsel sei, könnten wir ihn also besänftigend auffordern, Ruhe zu bewahren, denn hier geht die Lösung des Rätsels mit seiner Formulierung einher. Ein Quadrat ist ein Quadrat ist ein Quadrat.

So zumindest scheint es. Beim erneuten Durchlesen des obigen Textes schleicht sich jedoch ein Unbehagen ein, und die Glätte des Gedankens beginnt zu mißfallen. Ist die Einfachheit der Erklärung nicht doch vielleicht eine Vereinfachung? Läßt sich derselbe Sachverhalt vielleicht auch ganz anders begreifen? Gehen wir zurück und schauen erneut auf die Werke von Edda Jachens, achten aber besonders auf jene Punkte, die uns zunächst nur stutzen ließen und uns jetzt zu Zweiflern machen.

Wir hatten behauptet, daß in Jachens’ Werken alles sichtbar sei, aber es genügt schon der Blick auf eines der vielen Bilder mit Paraffin, um zu zeigen, dies ist eine Lüge – oder zumindest nur die halbe Wahrheit. Wir sehen ein quadratisches Objekt, auf dem eine dicke Schicht einer halbtransparenten Masse liegt, aber ab diesem Moment muß man sich fragen, was man denn sonst noch sieht. Sicherlich, wir sehen Formen und Farben. Aber was für Formen sind das, was für Farben und wo befinden sie sich? Wir wissen es nicht genau. Wir sehen verschwommene Quadrate, Streifen, Rechtecke oder Kreise, wissen aber nicht, ob diese auch tatsächlich verschwommen sind oder nur so erscheinen. Wir sehen Farben, die von innen leuchten, und Farben, die nur matt und dumpf sind, wissen aber nicht, ob sie dies auch tatsächlich sind oder doch nur so erscheinen. Und was den Ort von Farbe und Form betrifft, so sind wir völlig im unklaren darüber, ob sie sich in oder unter dem Paraffin befinden, denn manche scheinen weiter vorn zu liegen, manche weiter hinten. Unser Verstand sagt uns zwar, daß all das von der Paraffinschicht herrührt, daß ihre optischen Eigenschaften die an sich klare und scharf umrissene Form verschwimmen lassen und das Licht der Farben unterschiedlich streuen, aber das ist eben unser Verstand und nicht unser Auge. Wie es unter dem Paraffin tatsächlich aussieht, wissen wir nicht und werden es auch nie erfahren, es sei denn wir entfernten das Wachs und zerstörten damit das Werk. Im Grunde bewegen sich die Bilder von Edda Jachens an der Grenze zur Illusion, und die Künstlerin hat somit bereits gegen die erste Bedingung verstoßen, die wir die sinnlich-phänomenale nennen, welche für das Kunstwerk die reine Sichtbarkeit einfordert. Wohlgemerkt, die reine. Zwischen deren Möglichkeit und unser tatsächliches Sehen gießt Jachens einen wächsernen Schleier, der unseren Augen weniger zu sehen gibt als unser Verstand zu erkennen meint.

Die klassische Rhetorik kennt dieses Verfahren unter dem Begriff des integumentum, des Verhüllens oder Verschleierns, und stellt es der perspicuitas, der Durchsichtigkeit oder Deutlichkeit, entgegen. Aus der perspicuitas entspringt der schlagende Beweis, die Evidenz, die wir als die zweite Eigenschaft des modernen Kunstwerks festgesetzt hatten. Dem integumentum hingegen ist das Zweideutige eigen, das einen Inhalt verhüllt, der im Verborgenen und Obskuren sich der Offensichtlichkeit entzieht. Ein derartig vermittelter Inhalt bedarf der Interpretation und der Deutung, er bedarf also eines zweiten Mediums, eines Textes oder Kommentars, der das Undeutliche erst zur Deutlichkeit bringt. Das Verschleiern eines Inhalts, wie wir es in den Paraffinarbeiten von Jachens anfinden, widerspricht zwar einer am Konkreten ausgerichteten Kunst, kann aber auf eine lange Tradition zurückblicken. Seit Augustinus ist es das christliche Stilmittel schlechthin, hüllte doch Christus seine Offenbarungen oftmals in Fabeln und Gleichnisse, woraus dann die Überzeugung erwuchs, daß jegliche konkrete Äußerung, sei sie in der Heiligen Schrift oder bei weltlichen Autoren, immer einen anderen, vor dem oberflächlichen Auge verborgenen Inhalt enthält, der Objekt einer weitergehenden Exegese sein muß.

Unterstellen wir also Edda Jachens, daß sie Umschichtungsbewegungen initiiert, die eine Differenz zwischen dem Gezeigten und dem Gemeinten, zwischen dem Wahrnehmbaren und dem Erkennbaren entstehen lassen, fällt auch unsere dritte Bedingung der semiotischen Selbstreferentialität. Plötzlich genügt sich die Form nicht mehr selbst, und es keimt der Verdacht, sie stehe für etwas anderes, sei wieder Zeichen oder gar Symbol. Im Gespräch bezeichnet Edda Jachens manchmal selbst ihre Arbeiten als Gleichnisse. Welch ein schweres Wort! Zieht es doch das Werk hinab in die verborgene Inhaltlichkeit und führt die Vorstellung von der Repräsentation wieder in die Kunst ein. Um diese zu verstehen, reicht es dann nicht mehr, auf das sinnlich Gegebene zu verweisen, denn dieses ist nicht das, was es zu sein vorgibt.

Wir sehen uns daher in der unangenehmen Lage, daß auch unsere vierte Prämisse, die der ontologischen Selbstidentität, in ihr Gegenteil verkehrt ist. Das Quadrat bedeutet nicht es selbst und es ist auch nicht es selbst, es ist ein Gleichnis und ist somit als Quadrat vielleicht ein Dreieck, ein Kreis oder eine Rose. An die Stelle unserer Gewißheit tritt die Ahnung, und wir beginnen, an das Rätsel in den Werken von Jachens zu glauben. Hatten wir zuvor versucht, unseren Mitbesucher der Ausstellung zu beruhigen, stehen wir nun genauso ratlos wie er vor der Kunst und müssen ewas tiefer in unserer hermeneutischen Werkzeugtasche kramen. Vielleicht finden wir ja andere Hilfsmittel, die uns sagen können, was diese Quadrate, Blöcke, Winkel und Streifen bedeuten und was sie sind. Den Satz von Frank Stella lassen wir mitsamt seiner Apodiktik jedoch erst einmal liegen.

Beginnen wir mit einer Untersuchung der Begriffe abstrakt und konkret. Bisher haben wir sie ganz selbstverständlich angewandt, ohne genauer zu definieren, was sie eigentlich besagen. Darin sind wir einer allgemeinen Tendenz moderner Kunst gefolgt, die diese Begriffe zwar gern und häufig benutzt, aber sie auch genausogern verwässert. Kandinsky, der wohl als einer der ersten die Programmatik einer nichtgegenständlichen Kunst intensiv ausgearbeitet und formuliert hat, benutzt die beiden Begriffe nahezu synonym. Abstrakte Kunst ist konkrete Kunst, weil sie in der Nichtgegenständlichkeit den Zwang der von außen auferlegten Naturnachahmung und den damit einhergehenden Materialismus abgestreift hat. Sie folgt nur ihrer inneren Notwendigkeit. Nie hätte er es aber gewagt, das Konkrete in der Kunst zu verstehen, wie Theo van Doesburg es tut, der Gründer dessen, was wir die – großgeschrieben – Konkrete Kunst nennen. Er nähert sich schon in aller Schärfe einer Vorstellung von Kunst, wie sie dann in Stellas Satz komprimiert wird. Die Form steht für sich und der Sinn eines Kunstwerks erschöpft sich in seinem zweckfreien und universellen Sosein. Sein ehemaliger Weggefährte Mondrian hingegen weiß abstrakt und konkret so zu unterscheiden, daß darstellende Kunst abstrakt genannt wird, und nichtdarstellende konkret, weil die darstellende Kunst ihren Gegenstand nur mit Abstrichen – also durch Weglassungen oder Abstraktionen – umsetzen kann, nichtdarstellende Kunst jedoch den Gegenstand in seinem vollen Wesen erfaßt. Die Darstellung eines Quadrats ist weiterhin ein Quadrat, die Darstellung einer Rose ist eine Ansammlung von farbigen Flächen und Klecksen. Im Laufe der Zeit zum Common sense geronnen, entsteht aus diesen Äußerungen und noch zahlreichen weiteren ein Verständnis, das ‚abstrakt’ in der Kunst als etwas Diffuses, Spekulatives, jedoch noch immer mit der materialistischen Welt Verbundenes begreift, ‚konkret’ aber als das Klare, Handfeste und im Verhältnis zu dieser Welt Absolute.

Wo stehen hier nun die Werke von Edda Jachens? Daß sie die sichtbare Welt wiedergeben oder abbilden, das können wir zwar ausschließen, aber all unser bisheriges Mühen sollte uns eigentlich zu dem Schluß geführt haben, daß es auch um das Konkrete in ihrer Kunst nicht so einfach bestellt ist. Die geometrischen Formen unter dem Paraffin, die einerseits sichtbar sind, andererseits auch nicht; die stereometrischen Körper, deren metallische Verkleidung das Auge sowohl abweist als auch aufsaugt und deren kantige Öffnungen im Gegenzug ihr eigenes, farbiges Licht entsenden; beide Werkgruppen, die Jachens bisher geschaffen hat, sind beherrscht vom Wechselspiel des Enthüllens und Verhüllens, der Aufklärung und der Verdunkelung, des Konkretisierens und des Abstrahierens. Zwar baut Jachens ihre Bilder präzise und klar auf und bezieht dabei die spezifischen Eigenschaften des gegebenen Materials mit in ihre Komposition ein, das heißt sie arbeitet in der Konkretion. Aber sie tut das, so scheint es, um eben dieser Konkretion wieder etwas von ihrer Bestimmtheit und Klarheit zu nehmen, um sie zurückzuführen in den Zustand einer Abstraktion. Der Begriff der Abstraktion, der einem solchen Verfahren zugrunde liegt, ist jedoch ein anderer als der, den wir oben skizziert haben.

Er führt in die vormodernen Tiefen des abendländischen Denkens, als jede Wissenschaft in letzter Instanz auch Theologie war. Das Begriffspaar ‚abstrakt’ und ‚konkret’ geht auf Boethius zurück und findet von ihm ausgehend seine Aufnahme in die Scholastik. Für Thomas von Aquin ist ‚konkret’ das aus Materie und Form buchstäblich Zusammengewachsene, während mit ‚abstrakt’ die Form ohne ihren Träger, das von der Materie Befreite bezeichnet wird. Das Abstrakte ist das Allgemeine und steht über dem besonderen, in seiner Bestimmtheit gebundenen Einzelnen des Konkreten. Dementsprechend ist also das Quadrat konkret, die Quadrathaftigkeit abstrakt. Der Weg zum Quadrat führt von den obersten Sphären des nur vom Geist erkennbaren Abstrakten über einen Prozeß der Individuation, während dessen das Abstraktum sich mit außer ihm Stehendem verbindet. Implizit steckt in der Argumentation der Scholastik jedoch ein gewisses Defizit, das dem Konkreten anhängt, da es durch seine Bindung an das Materielle weiter entfernt liegt vom reinen Geistigen, dessen letztendliche Erfüllung in Gott liegt.

Wenn wir also behaupten, daß Edda Jachens in ihrer Kunst die geometrischen Bilder und stereometrischen Körper in die Abstraktion stellt, so müssen wir das in dem Sinne verstehen, daß sie das Quadrat oder den Kubus in einen Zustand des Allgemeinen oder Über-Konkreten transzendiert. Das bestimmte, individuell konkrete Quadrat wird zu einem Quadrat, einem Abstraktum. Dieses kann dann wiederum vordringen zu der Vorstellung von dem Quadrat, das über allen steht, dem höchsten Allgemeinen der Quadrathaftigkeit. Die Werke von Jachens können also begriffen werden als ein dialektisches Gleichnis für diese komplexe Bewegung der Individuation vom Allgemeinen zum Besonderen und die Gegenbewegung einer Rückführung in das Allgemeine wieder hinein.

Damit sind wir der Lösung des Rätsels ein gutes Stück näher gekommen. Schwierig war dies im Grunde nicht, konnten wir doch diese Überlegungen aus der Erscheinungsweise der Kunstwerke ableiten. Am Ende sind wir damit allerdings noch nicht, denn wenn wir den bisher eingeschlagenen Weg als den richtigen betrachten wollen, müssen wir auch der Konsequenz Rechnung tragen, die ein solcher Weg nach sich zieht. In der Tat scheint es, als läge der Arbeitsweise von Jachens ein anderes Denken zugrunde als dem der Konkreten Moderne. Denn dieser ist ein Operieren in Gleichnissen und Analogien völlig fremd, ja geradezu entgegengestellt. Viel eher zeigt Jachens in ihrem Tun eine Verwandtschaft mit einer anderen Moderne, die von Sätzen wie dem von Frank Stella aus unserem Verständnis verdrängt wurde und die wir manchmal nur zu gern vergessen. Die Rede ist von dem, was Kandinsky das Geistige in der Kunst nennt.

Die Schwierigkeit einer abstrakten, nichtdarstellenden Kunst, die als eine geistige begriffen wird, liegt darin, daß sie sich im Grunde dem Wort und der rationalen Erkenntnis entzieht. Und ebenso schwer fällt es zu beweisen, ob und inwiefern eine Künstlerin oder ein Künstler etwas Geistiges zum Ausdruck bringt. Denn diesem ist es eigen, sich eben nicht im Sichtbaren als Evidenz zu manifestieren. Selbst wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird, so kann es doch nie mit Sicherheit festgestellt werden. Es sei denn, bei der Kunst handelte es sich um eine esoterische Geheimwissenschaft, die sich uns erst erschließen darf, wenn wir als Initiierte die Weihen zur wissenden Betrachtung erhalten haben. Man kann es lediglich ahnen oder sich einbilden, daß eine abstrakte Form oder eine Farbe auf einen geistigen Inhalt verweisen, daß sie teil haben an einer Ikonologie des Unsichtbaren, aber eindeutig wissen kann man es nicht. Es sind Indizien, die uns zu der Überzeugung führen, Merkmale, die manchmal stetig um das Kunstwerk kreisen und einer wie auch immer gearteten Empfindung suggerieren, daß hier ein Mehr an Gehalt vorhanden ist, der sich nur im schauenden Erleben offenbart. Darin ist diese Kunst dem Religiösen nicht ganz unähnlich.

Ein solches Indiz haben wir bei Edda Jachens zunächst in den Titeln, die sie ihren Werken gibt. Neben eher neutral erscheinenden Titeln wie „Zeichen“, „Intervalle“, „Bewegung“ oder „Verschiebung“ finden sich auch andere, die aufhorchen lassen: „Oratorium“, „Menetekel“, „Ikone“ oder „Nimbus“. Diese Namen verweisen auf hieratische Formen, auf den Kontext von Religion, Kirche und Liturgie. Die Frage ist nur, ob Jachens diese als Formen in ihrer reinen Formalität begreift, oder aber auch in ihrem Gehalt.

Wir hätten allerdings nicht in unserer Argumentation den ganzen Umweg genommen über die Art und Weise, wie Jachens die Prämissen der konkreten Kunst unterläuft, wenn wir abschließend diese letzte Frage nun verneinen sollten. Allein ihre bildnerischen Verfahren haben uns diese Schlußfolgerung ja nahegelegt. Die Einbeziehung der Titel gibt uns daher nur noch eine weitere Bestätigung für das, was wir bereits schon ahnten. Als wir sagten, daß Jachens’ Bilder ein Gleichnis für die Bewegung seien, die eine abstrakte, geometrische Form in der Konkretion individuiert und diese gleichzeitig wieder zur Abstraktion als Allgemeinheit zurückführt, haben wir uns damit zufrieden gegeben und dies als ausreichende Erklärung begriffen. Nun aber drängt sich eine weitere Sinnschicht auf, die die Form selbst betrifft. Denn diese Form scheint für etwas zu stehen. Sie und ihre spezifische Erscheinung im Bild scheinen Zeichen oder Symbole zu sein für eine bestimmte Erfahrung von Transzendenz. Das Quadrat, die Bildform der Ikone oder die an Musikkomposition angelegte Gestalt der Intervallbilder werden durch das Darübergießen von Paraffin nicht nur zur Allgemeinheit des Begriffs ihrer selbst erhoben, sondern sie versuchen auch, sich dem Wesen ihrer sakralen Unbegreiflichkeit anzunähern. Im Paraffin sind sie nah und wiederum auch nicht. Die halb durchscheinende Schicht läßt eine Form erahnen, die eben nicht auf eine abgezirkelte Malerei mit Acrylfarbe reduzierbar ist, eine Form, die eigentlich nicht darstellbar ist, weil sie nicht dargestellt werden darf. Wie ist das zu verstehen? Nehmen wir an, ein blaues Quadrat mit einer gelben Umrandung – einem Nimbus – stehe für etwas Vollkommenes, eine Idealität reinen Seins. Dies auf einen Holzträger zu malen und dann auszustellen, käme einem Sakrileg gleich. Denn eine an alle Zufälligkeiten des Materials gebundene Darstellung wäre eine Verfälschung, eine groteske Karikatur, aber niemals etwas Vollkommenes. Der Schleier des Paraffins jedoch – er ermöglicht der materiell gegebenen Malerei, Repräsentant einer vollkommenen Idee zu werden. Und das auf zweifache Weise: Zum einen verhüllt er die Unvollkommenheit des Gegebenen und läßt es als Abstraktum durchscheinen, zum anderen wird er zum sichtbaren Symbol dafür, daß überhaupt alles Vollkommene auf dieser Welt nur als ein Verhülltes präsent ist und sein kann.

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Wir kennen alle diesen Satz von Paul Klee, der genauso berüchtigt und verhängnisvoll ist wie der von Frank Stella. Wurde und wird er doch vor allem so verstanden, als beziehe er sich auf das Unsichtbare, was sichtbar gemacht werde. Damit wird das Problem verdrängt, daß das Unsichtbare in seiner Unsichtbarkeit nie sichtbar werden kann, als handele es sich dabei um ein mit Geheimtinte geschriebenes Wort, das nur der geeigneten Substanz – nämlich der Kunst – bedürfe, um als solches in seiner reinen Präsenz in Erscheinung zu treten. Die Kunst kann dies allerhöchstens im übertragenden Sinne, gewissermaßen gleichnishaft, vollbringen. Alle gegenteiligen Behauptungen sind Opfer einer Selbsttäuschung.

In seiner kleinen Schrift „De fide rerum quae non videntur“ verteidigt Augustinus das Christentum gegen den Vorwurf, es sei eine lächerliche und falsche Religion, weil es zum Glauben an Unsichtbares zwinge. Zwar streitet Augustinus die Unsichtbarkeit seiner Glaubensinhalte nicht ab, fragt aber im Gegenzug, ob es nicht immer schon Dinge gebe, die wir nicht sehen können, aber die wir trotzdem glauben, Dinge wie die Freundschaft oder die Liebe, die für das menschliche Zusammenlebens notwendig und unabdingbar seien. Warum sollten wir dann also nicht auch das glauben, was in seiner Vollkommenheit über allem steht, selbst wenn es für unsere Augen unsichtbar sei. Ja, im Grunde sei es eben diese Unsichtbarkeit, die uns zum wahren Glaube führe, „da wir gerade deshalb glauben müssen, weil wir nicht sehen können“. Auf diesen, als Bekenntnis für sich schon ausreichenden, Schluß läßt Augustinus dann eine Argumentation folgen, die zeigen soll, daß das Unsichtbare sich durchaus auch im Sichtbaren zeigt, in Form von Zeichen, die sich in der Heiligen Schrift finden, in den Prophezeiungen und deren Erfüllung – Zeichen, die uns als Gleichnisse jetzt helfen zu glauben, daß das, was noch unsichtbar ist, sich irgendwann unserem Auge als Gewißheit offenbart.

Die Spannung zwischen Erkennen, Wissen, Ahnen und Glauben klärt nun auch den Sinn der eingangs zitierten Verse aus dem ersten Paulusbrief an die Korinther. Die Übersetzung von Luther gibt den Text folgendermaßen wieder:

Wir sehen jtzt durch einen Spiegel in einem tunckeln wort/

Denn aber von angesicht zu angesichte.

Jtzt erkenne ich’s stückweise/

Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin.

Dieses Zitat gehörte zu einer der ersten Assoziationen, die ich hatte, als ich die Paraffinarbeiten von Edda Jachens sah. Der Grund dafür war mir jedoch nicht ohne weiteres klar. Denn es steht so ganz im Widerspruch dazu, was die formale Gestaltung uns an Analysemöglichkeiten suggeriert. Sehr – großgeschrieben – Konkret kommt diese Kunst daher und konkret bleibt sie auch in der Wahl ihrer Mittel. Betrachtet man jedoch die inhaltlichen Implikationen, die das Konkrete in der Kunst mit sich führt, erkennt man bald, daß Jachens innerhalb der Grenzen, die die Konkretion den Künstlern auferlegt, einen Prozeß entfaltet, der gleichnishaft dafür steht, wie diese Grenzen überschritten, transzendiert werden. Dabei rührt sie an einen Kern, der in seiner Vollkommenheit dem Auge stets verborgen bleibt und auch den Worten sich entzieht, der aber gleichzeitig gerade in seinem Verhülltsein seine Präsenz erfahrbar werden läßt. „What you see is not necessarily what you see“, so könnte das Credo der Minimalisten im Sinne von Jachens umformuliert werden. Schöner aber ist der Gedanke, daß die Worte von Paulus zum Satz werden, der die Kunst von Edda Jachens repräsentiert, so wie diese ihn.

Andreas Pinczewski, M.A.

© Edda Jachens